Nine To Five [German only]
Es war mein erster und bislang einziger Nine To Five Job. Morgens pünktlich um neun Uhr war ich im Amt, das ich ebenso pünktlich um fünf Uhr nachmittags wieder verließ. Auch die Pendlerbewegung von Küblis nach Schiers passte perfekt zum Jobprofil. Nur die Mittagspause war länger. Man dachte wohl, ein Künstler bräuchte längere schöpferische Pausen. Es stellte sich heraus, dass dies stimmte. Ich war der „Gemeindemaler von Schiers“.
Ich war also im Amt, genauer gesagt im Schierser Rathaus, und hatte dort meinen Platz. Einen Tisch hatte ich auch, solide Holzarbeit aus dem Prättigau; groß genug um meine Malutensilien darauf abzulegen. Aber, so stellte sich die Frage, auch groß genug als Ablage für all die Probleme der Schierserinnen und Schierser? Denn dazu war ich da: die mir vorgebrachten Probleme der Einwohner mit ihrer Gemeinde zu visualisieren. Zu zu hören. Nach zu fragen. Auf zu zeichnen. Dazu war ich da.
Probleme sagen sehr viel über das soziale Gefüge eines Ortes aus. Sie sind Zonen der Erregung im ansonst ruhig vor sich hin atmenden Körper der Gemeinschaft. Probleme jagen Signale auf seinen Nervenbahnen hin und her: Wo fehlt etwas? Wo ist etwas zu viel? Wo ist eine Unstimmigkeit? Wo eine Frage vielleicht?
Je mehr Probleme mir vorgetragen wurden, desto mehr hatte ich das Gefühl, den Ort von innen her zu kennen. Nach drei Tagen hatte ich schon eine ziemlich genaue Vorstellung von Schiers, obwohl ich – von der kurzen Wegstrecke zwischen Bahnhof und Gemeindeamt einmal abgesehen – kaum wusste, wie es aussah. Ich verblüffte den Gemeindepräsidenten mit einer ziemlich exakten Darstellung des Friedhofeingangs, trotzdem ich nie dort gewesen war. Unter uns gesagt (und sagen Sie es bitte nicht weiter): das könnte auch bloßer Zufall gewesen sein.
Ich war also im Amt und versuchte mein Bestes, die Probleme der Gemeinde zu visualisieren. Und es kamen viele: Einwohner und Probleme. Teilweise konnte ich gar nicht so schnell zeichnen wie Probleme an mich herangetragen wurden. Ich musste Wartelisten ausgeben, Menschen auf später vertrösten. So auch eine Schulklasse, der ich hoch und heilig versprach, ihre zahlreichen Probleme fertig darzustellen, wenn Zeit dazu wäre. Zum Glück habe ich mein Versprechen gehalten, denn sie kamen am letzten Nachmittag wieder, um dies zu kontrollieren.
Ich werte nicht, ich zeichne nur auf. Es gibt keine „großen“ und „kleinen“ Probleme. Ein Problem hat genau die Größe und Dringlichkeit, die derjenige empfindet, der dieses Problem hat. In diesem Sinn fand ich alle Anliegen, Wünsche und Vorschläge interessant. Ich fand besonders schön, dass so viele Menschen mir ihre Probleme erzählt haben, denn so wurden sie zu Mit-Autoren der Werke. Ich benötige ja den Input; aus mir allein tätig zu werden, scheint mir bei diesem Projekt wenig sinnvoll zu sein.
Im Übrigen spielt die Qualität der Zeichnungen keine große Rolle. Manche mögen ziemlich gut gelungen sein, etliche sind es mit Sicherheit nicht. Sie sollen ja nicht für sich stehen, sondern verstehen sich als kommunikative Einheiten in einer Kette von Prozessen des Dar-stellens, Vor-legens und Auf-zeigens. Ich führe im wörtlichen Sinn „vor Augen“, was einen Menschen bewegt, um so vielleicht anderen „ersichtlich“ zu machen, worum es geht. Dies ist mein Beitrag, mehr nicht. Wenn er zu einem weiter fruchtbaren Austausch führt, dann freut mich dies. Wenn er gar dazu beiträgt ein Problem zu lösen, dann möchte ich doch um Nachricht bitten. Dies zum Beweis, dass Kunst tatsächlich in der Lage sein könnte, etwas zu bewirken.
Etwa 35 Zeichnungen habe ich in dieser Woche angefertigt. Das ist ganz schön viel, wenn man bedenkt, dass ich nicht unbedingt ein schneller Zeichner bin. Die Mittagspausen waren wohl verdient. Ich begann Teil einer Gemeinschaft zu werden, zu der ich etwas beitragen konnte. Das ist es, was ich nach kurzer Zeit bereits mit Freude feststellte: Ich war gern der „Gemeindemaler von Schiers“.
Dafür gebührt einigen Menschen mein herzlicher Dank: allen voran dem Peter Trachsel, der mich eingeladen und damit dieses Projekt ermöglicht hat, dann natürlich dem Gemeindepräsidenten Christoph Jaag und dem Gemeindeschreiber Gabriel Duff, die mich so positiv aufgenommen und unterstützt haben. Und – last but not least – allen, die mir im Rathaus von Schiers gegenüber gesessen sind und mit denen ich über ihre Probleme reden durfte.
Martin Breindl, Wien, 2011 08 14