Bernhard Kathan,
M A M A
Okkasan
zu den "Flugzeugfallen" von Martin Breindl, August 2021
[ German only ]
Die Erde packt den Düsenjäger
will ihn an ihre Brust ziehn
Die Mutter packt den Düsenjäger und will ihn an ihre Brust ziehn. Ist es nicht umgekehrt? Sehnt sich nicht der Junge nach der Milch ihrer Brüste, nach ihrer Wärme, ihrem Atem? Der Knabe läuft durch das Zimmer, durch sein Knabenzimmer. In seiner hocherhobnen Hand ein Kampfflugzeug. Bei jedem Atemzug dehnen sich die Wände der Kabine, um ihn, atmet er aus, beinah zu ersticken. Im Cockpit, in seinem Kopf, ein kleiner Japaner, der das Flugzeug ins Herz der Feuergarben lenkt. Es sind keine Schulmädchen aus der Umgebung abgeordnet, um dem Piloten zuzuwinken, sei es mit Blumen oder weißen Tüchern, auch nicht Gabi und Trixi aus dem Nachbarhaus. Die Mutter, ein Dampfbügeleisen, auf seinen Rücken gekehrt, ein Flugzeugträger. Es braucht eine lange ebene Fläche, einen starken Widerstand, um abzuheben, groß und stark zu werden. Nein, Gabi und Trixi brauchen nicht zur Funkstelle zu gehen und zu warten, bis das Signal des Piloten verstummt. Er ist nicht abgestürzt. Auch ruft sein Zimmer nicht, um mit einer leichten Verbeugung eines seiner Modellflugzeuge an die Stirn zu führen oder in Ermangelung von Räucherstäbchen etwas Tabak anzuzünden. Da ist kein Schatten, der den beiden das Weinen verböte.
Die Erde zerrt das U-Boot tief hinab
zurück in die Gebärmutter Meer
Fliegen wie ein Vogel, in der Luft Purzelbäume schlagen wie eine Schwalbe. Ein Ziel anvisieren. Der Knabe läuft durch das Zimmer, durch sein Knabenzimmer. In seiner hocherhobnen Hand ein Kampfflugzeug. In Ermangelung wirklicher Ziele stößt er es in eine der Ecken des Sofas. Schade, dass keiner da war und über Wochen und Monate all die Bewegungen festhielt, all die Linien übereinanderlegte. Sie zeugten von lustvollem wie angstbannendem Tun. Sprachlos zwar, aber beredt, kannte der Junge doch auch die Angst, ein hoch oben dahingleitendes Flugzeug mit bloßer Gedankenkraft vom Himmel zu holen. Wäre ein Flugzeug abgestürzt, an schrecklichen Schuldgefühlen hätte er gelitten. Nur nicht an einen Absturz denken. Und doch blieb der Wunsch, wie ein Vogel zu fliegen, in der Luft Purzelbäume zu schlagen wie eine Schwalbe, im klaren gleißenden Sonnenlicht in einer Höhe von 45 000 Fuß in einem silbernen Phallus dahinzugleiten, unter sich die schönste alpine Landschaft mit Bäumen, Felsen, Blumen und grasenden Kühen. Plötzlich wird es dunkel und kalt. Nur mit Mühe gelingt es ihm, in eine löchrige Weste zu schlüpfen, den Reißverschluss hochzuziehen. Seine Arme führen ein Eigenleben, so als hätten sie sich selbständig gemacht und vom Körper gelöst. Hie und da etwas, das durch die Luft schwebt und sich wie Federflaum anfühlt. Sterne beginnen zu leuchten, immer mehr Sterne, bis sie schließlich den Fliegenden einhüllen. Aufgehoben in einer Wolke von Sternenstaub, doch plötzlich ist alles voll von flüssigem Teer, der Raum, die Badewanne. Er hebt seinen Arm. Zähflüssiger Teer rinnt an ihm herab, macht ihn schwer und schwerer. Erst im zeitlichen Abstand treten Zeichen und Bedeutungen klar hervor. An die Stelle von Flugzeugen hätten auch Bürsten, Kämme, Schmuckstücke oder Nagelscheren der Mutter treten können. Es muss also eine Ordnung gegeben haben. Allerdings wären Fragen nutzlos gewesen, handelte es sich doch um ein impulsives Alphabet, ein hochgespültes Zeichensystem, dahinter ein höheres Gesetz, das Kunst und Handeln in Einklang bringt. Dieses Gesetz, das wusste er nicht, findet sich im Tod, in der letzten, äußersten Atmosphäre, in der es keinen Sauerstoff gibt, in der ein Mensch, um zu überleben, wie ein Schauspieler eine Maske tragen muss. In einer Höhe von 45 000 Fuß gleitet der silberne Phallus des Flugzeugrumpfes im klaren gleißenden Sonnenlicht dahin.
Eifersüchtig ist sie aufs Weltall
die engstirnige Mama
Oben und unten. All das bewegte ihn damals, als das Haus an das Kanalnetz angeschlossen wurde: die betonummantelte Senkgrube, ein Raum von vier mal vier Metern, über dessen Tiefe niemand etwas wusste. In dieser Senkgrube sammelte sich die Scheiße des Großvaters, der Stiefgroßmutter, die als Tante anzusprechen war, die der Eltern. Auch seine kleine Scheiße floss in diese Grube, um sich dort mit der großen Scheiße der Erwachsenen zu vermischen, zur ununterscheidbaren Soße. Mit dem Anschluss an das öffentliche Kanalnetz verlor die Senkgrube ihre Funktion. Warum sie nicht einer anderen Nutzung zuführen, den Deckel entfernen, um die Grube in ein Wasserbecken zu verwandeln, in einen Swimmingpool. Ein kleiner Pool, gewiss, aber er würde reichen. Ein blaues Sprungbrett, das aus dem Fenster ragte und von dem aus sich direkt in den Pool springen ließe. Wenn er tief genug wäre, dann auch kopfüber. Ja dann, kopfüber, sieben Meter tief, direkt in die Scheiße. Dies trotz der unbändigen Angst, vom abfließenden Wasser durch das Abflussloch in die unheimlichen Tiefen der Kanalisation gezogen zu werden. Fest musste der Stöpsel geschlossen sein. Ein blaues, aus dem Fenster ragendes Sprungbrett. Fliegen. Fliegen, die auf schwarze Schrauben auf weißem Grund springen, diese als begattungsbereite Objekte verkennen. Wir denken, Drosseln oder Amseln sähen das Glas der Scheiben nicht. Tatsächlich fliegen sie in eine Spiegelung der Landschaft, klatschen gegen die Scheibe und fallen dann leblos zu Boden. Durch die Wucht des Anpralls versagt ihr Schließmuskel. Am Glas ein Kotfleck, ein Kotspritzer. Nicht anders Siebenschläfer, die sich in Regentonnen stürzen im Vertrauen auf rettendes Zweigwerk, das sich im Wasser spiegelt. Aber ist es für Lebendiges wirklich eine nicht geringe Versuchung, sich in den Himmel hinunter zu stürzen?
Noch immer zieht sie uns
an den Füßen hinab
Noch immer zieht es uns hinab, das Zurückliegende, vor allem die eigene Kindheit. Es ist, als flösse die eigene Substanz in eine klebrige Lache, als löste sich das Ich in Zähflüssigem auf, in Teer. Ganz anders wäre es, tauchte man die Hand in kühles Wasser. Der Eindruck wäre ein anderer. Stürzte man sich ins Wasser, spränge man hinein, man spürte keinerlei Unbehagen, nicht die geringste Furcht, sich in ihm aufzulösen. Im Klebrigen jedoch können wir uns nur verlieren. Wir lösen uns auf, eben weil das Klebrige dabei ist, sich zu verfestigen. Man klebt daran, zappelt und kommt nicht mehr los, von der Mutter, vom blankpolierten Stahl, vom magnetischen Eisen und dessen saugender Weichheit. Da hilft es nicht, spreizt er seine Hände, um das Klebrige loslassen, abzustreifen, wegzuwischen. Es haftet an ihm, bleibt haften, saugt ihn an, diese weiche, schleimige, weibliche Aktivität, die alles in sich hineinzieht wie der Abgrund einer tiefen Schlucht oder ein dunkler sich drehendet Mahlström, die Rache des An-Sich. Damals, als der Junge mit dem Kampfflugzeug in erhobner Hand durch sein Zimmer lief, plantschten Trixi und Gabi in ihrem großen Swimmingpool, balgten sich lachend, spritzten herum, während ein dicker Bub in der Nachbarschaft sich mit einer Regentonne begnügen musste und davon träumte, Trixi und Gabi, die ihn mit Verachtung straften, würden an den Beckenrand geschleudert, tauchte er seinen Kopf unter in der längst schleimigen Brühe. Später wurde er so dick, dass seine Fettmassen, beugte er sich mit nacktem Oberkörper aus dem Fenster, den Fensterrahmen zu sprengen drohten. Ganz schien er mit dem Haus verwachsen. Vergangenheit und Gegenwart, innen und außen, oben und unten, das Fenster als Schließmuskel, gefangen im Abflussloch. Eine Fensterexistenz. Aber aus dem Fenster drohte er nicht zu fallen, mochte er noch so sehr nach außen wuchern, und sei es, damit seinem Auge nicht die kleinste Bewegung verborgen bliebe. Nein, aus dem Fenster fallen konnte er nicht, steckte doch sein Unterleib, für Außenstehende nicht zu sehen, immer noch in der Regentonne, in seiner Kindheit, einem umfunktionierten Ölfass, mochte dieses auch längst verschwunden sein. Gefangen im Durchgang, im Haus der Verzweiflung, in der absoluten Einsamkeit. Alles andere als ein Planet Mensch, da bahnlos.
obwohl wir ja schon in der Pubertät stehen
obwohl wir schon ins Alter kommen
nach dem Mond zu greifen
Ordnen. Man müsste all die Trümmer der Vergangenheit wie nach einem Flugzeugabsturz zu einem Ganzen fügen. Bliebe es auch löchrig, so nähme es doch Gestalt an. Doch es sind zu viele Teile abhandengekommen. Also alles noch einmal in Szene setzen. Während unser Pilot damit beschäftigt ist, Teile von Modellflugzeugen zusammenzustecken, zusammenzukleben, mit einem Kampfflugzeug in erhobner Hand durch sein Zimmer zu laufen, Motorenlärm aus Kehle und Lippen pressend, seine Stimme anschwellen lassend, steuert er die Maschine in eine der Sofaecken, planschen Trixi und Gabi in ihrem Swimmingpool, balgen sich lachend, spritzen herum, während der dicke Bub in der Nachbarschaft sich mit einer Regentonne begnügen muss und davon träumt, die beiden würden an den Beckenrand geschleudert, tauchte er seinen Kopf unter in der längst schleimigen Brühe. Aber auch die Figuren sind längst abhandengekommen, die Regentonne ist verschwunden, während an heißen Tagen im Pool der beiden Mädchen deren Mutter liegt, die einstmalige Direktorin, fast reglos, die Abdeckfolie nur leicht beiseite geschoben, so dass nur ihr Kopf mit Sonnenbrille und Sonnenhut, auch ihre dünnen Arme am Poolrand zu sehen sind. Bleibt also nur noch, Bilder zusammenzuschweißen, übereinanderzulegen, Gabi und Trixi, die alt gewordne Direktorin, deren Kopf aus der etwas zur Seite geschobenen Abdeckfolie, dem Leichentuch, herausragt, den im Fenster eingeklemmten Dicken, der in keinen Sarg passen wird und den acht Männer auf einer eilig herbeigeschafften Schaltafel, festgeschnallt mit Zurrleinen, aus dem Haus tragen werden, all die Bügeleisen und Gießkannen der Mutter, von denen diese trotz ihrer Vielzahl nicht eines oder eine missen wollte, die vielen Flugzeuge – bleibt nur noch, all die Bilder zu einem einzigen, wenn auch seriellen Bild zu verschmelzen, das Klebrige mit einigen Kübeln Wasser abzuschrecken. Aber die Bügeleisen haben immer noch Hitze gespeichert. Sie dampfen, zischen und fauchen. Selbst eine halbe Stunde später (oder länger) ist noch ein leises Knacken des Plastiks zu vernehmen, was deutlich macht, dass der Verformungsprozess immer noch im Gang ist: „Mama, ich habe Angst!“ Und doch erweist sich das Klebrige schlussendlich als fügsam, gerade weil es uns zu besitzen glaubt. So ist denn der Geist schließlich ausgeglichen, sind die Gedanken lebhaft. Keine Bewegung, kein Geräusch, keine Erinnerungen. Stille von einer Schönheit, die Worte nicht beschreiben können. Nicht mehr Körper oder Geist, Federhalter oder Schwert, Mann oder Frau. Ein riesiger Kreis, der sich um die Erde schließt, ein Ring, der sämtliche Polaritäten aufhebt, ein Ring, unermesslicher als der Tod, wohlriechender als jeder Duft, den er je gekannt hatte. Das ist der Augenblick, nach dem er immer getrachtet hat.
Die verwendeten Sprachbilder verdanken sich u.a. Walter Benjamin, Martin Breindl, Franz Dodel, Mary Douglas, Chris Marker, Yukio Mishima, Jean-Paul Sartre, das wörtlich zitierte Gedicht Tanikawa Shuntaro, hier in einer Übersetzung von Eduard Klopfenstein.